Schreib-Atelier

Eine kurze Geschichte über die Familie

Folgen Sie dem Link und hören Sie "Eine kurze Geschichte über die Familie", die ich für einen Autorenwettbewerb von der "Stiftung Kreisherzogtum Lauenburg" zum Thema Familie schrieb und die von Heike Götz ganz wunderbar vorgelesen wird.

Was wäre, wenn der Tod eine sanfte alte Frau wäre, vor der sich niemand zu fürchten braucht?




Der Besuch


In der Nacht wurde Annika von einem Geräusch geweckt. Die Tür zu ihrem Krankenzimmer öffnete sich leise knarrend, der helle Schein vom Flur fiel kurz herein und schlich sich mit dem Schließen der Tür wieder davon. Im fahlen Licht, in das die zahlreichen Monitore an ihrem Bett das Zimmer tauchten, konnte sie eine Gestalt erkennen, die jetzt an das Fußende ihres Bettes trat. Ganz still stand sie da. Wer war das? Normalerweise gingen die Menschen, die Nachts in ihr Zimmer kamen, immer nur zu den Bildschirmen oder kontrollierten die Schläuche und Pads, die ihren Zustand überprüften, protokollierten und bestimmten wie viel Schmerzmittel durch den Tropf in ihre Vene floss. Manche strichen beim Gehen noch leicht über ihre Haare und zogen die Decke zurecht. Maria schaute immer, ob ihr Kuschelhase Schlappi auch brav auf ihrem Kopfkissen lag. Aber niemand stand einfach nur da. Neugierig setzte Annika sich auf. Jetzt erkannte sie eine alte Frau. Es sah aus, als ob sie einen langen Rock trug mit einer Schürze, ein wollender Schal war um ihre Schulter gelegt und ein Kopftuch – unter dem Kinn verknotet – verbarg ihre Haare. Von dem Gesicht konnte sie nicht viel sehen, nur die Augen funkelten im Dunkeln wie schwarze Seen. Annika spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Die alte Frau war ihr unheimlich. Als wenn diese es spürte ging sie jetzt ohne ein Wort zum Fenster und zog die schweren Vorhänge beiseite. Mondlicht flutete das Zimmer und hüllte alles in sein helles Licht. Jetzt konnte Annika auch das Gesicht erkennen. Es war runzelig, die Haut wie Pergament. Als wäre die Frau schon 1000 Jahre alt. Sie wandte sich jetzt mit einem Lächeln zu Annika und es war so warm und herzlich, das es dem kalten Funkeln in den Augen ein wenig das Unheimliche nahm. Dann begann sie zu sprechen: „Es wird Zeit, Annika, zu gehen.“

Annika erschrak bis ins Mark ihrer Knochen. Sie wusste sofort, was die alte Frau meinte aber sie wollte nicht gehen. Nun trat die Alte dichter an sie heran. Annika konnte sie jetzt riechen. Sie roch – Frühlingsregen nach einem der ersten warmen Tage. Dieser Duft war ihr der Liebste, weil man die Sonne darin riechen konnte und die Kirschblüten und Tulpen. Irgendwie beruhigte sie der Geruch weil er so schön und ungewöhnlich war. Noch einen Schritt näher kam sie und aus dem Rascheln ihres Kleides stieg ein Hauch von Sommer. Hitze auf reifen Ähren, der schwere Honigduft der gelben Rapsfelder. Annika musste wider Willen lächeln weil dadurch Erinnerungen in ihr wach wurden – Erinnerungen von den letzten unbeschwerten Tagen im August, Radtouren und Abendspaziergängen mit ihren Eltern.

Dann streckte die Frau ihre Arme aus – ganz langsam – und ergriff Annikas Hände. Annika wollte schon zurück zucken aber die Hände der Frau waren ganz warm und weich und ihre waren doch so kalt. Sie hielten die ihren jetzt. Nicht fest – es war kein festhalten – es war ein Halt geben. Als hätte die Alte gespürt, dass sie so sehr danach suchte. Nach Halt, den ihr niemand mehr geben konnte, nachdem sich alle Hoffnung als haltlos erwiesen hatte. Ohne sie loszulassen setzte sie sich zu ihr auf die Bettkante. So nah vermischte sich der Geruch des Sommers jetzt mit dem pilzig erdigen des Herbstes. Hmmmm – Apfelduft. Annika schnupperte und die Frau bemerkte es, lächelte und wiederholte ihren ersten Satz. „Es wird Zeit zu gehen, Annika.“ Sie sagte es ganz ruhig und warm. Annika blickte sich um und war seltsamer Weise nicht überrascht, sich selbst im Bett liegen zu sehen. Schmal und blass. Die Lippen bläulich schimmernd, die Arme wie Stöcker in denen Nadeln steckten. „Ich dachte, ich werde wieder gesund.“ Fand sie ihre Stimme wieder. Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Nein, dein Körper kann nicht mehr. Es ist Zeit zu gehen.“ 
„Aber ich kann nicht gehen.“
„Warum nicht?“
„Meine Eltern... Ich weiß, sie halten nur durch, weil sie glauben, ich werde wieder gesund.“
„Ich weiß.“ Die Frau lächelte traurig
„Aber das ist nicht deine Verantwortung. Es ist ihre.“
Annika überlegte. Ihre junge Stirn legte sich in Falten, so angestrengt dachte sie nach. Aber sie verstand es nicht.
„Ich werde Dich nicht mitnehmen, wenn Du nicht willst.“ Es klang nicht so hoffnungsvoll, wie Annika es gerne gehört hätte aber es riss sie aus ihrem Grübeln.
„Nicht?“ fragte sie schnell nach „Ich kann bleiben?“
„Ja.“ Sagte die Frau aber ihr Gesicht sagte etwas anderes und dann erklärte sie:
„Aber es wird nicht besser werden. Nur noch schlimmer. Es ist deine Verantwortung, denn niemand kann dir deine Krankheit abnehmen und darum kannst nur du entscheiden, ob du gehen möchtest oder bleiben.“
Zögernd nickte Annika. „Und meine Eltern?“ Die Alte holte tief Luft „Es ist ihre Entscheidung, wie sie damit umgehen, nicht deine.“ 
„Aber ich will ihnen nicht weh tun.“ 
„Kindchen,“ ihre Hände wurde gedrückt und auch wenn Annika schon viel zu alt war um so genannt zu werden, fühlte sie sich dadurch irgendwie getröstet. „Kindchen, du tust ihnen doch nicht weh. Du kannst doch nichts dafür.“
„Aber ….“ Hilflos verstummte sie. 
„Aber es wird ihnen das Herz zerreißen. Es ist das Schwerste auf der Welt sein Kind gehen zu lassen und alle Hoffnungen und Träume und Pläne. Es ist furchtbar, zurück zu bleiben und damit leben zu müssen, keine Wahl gehabt zu haben und das alles Hoffen und alles Tun vergebens war.“
„Aber?“ Annika wünschte sich so sehr, dass es ein Aber gab.
„Aber auch, wenn sie es in ihrem Schmerz vielleicht nicht sehen können, haben sie doch eine Wahl.“
Zögernd nickte Annika jetzt. Und dann saßen beide einfach nur da. Die alte Frau mit dem warmen Lächeln, in deren Augen die Ewigkeit lag und das junge Mädchen mit dem blassen Gesicht, dessen Leben, kaum das angefangen hatte, schon wieder fast zu Ende war. Sie schauten beide auf den schmalen Körper im Bett dessen Brust sich qualvoll langsam hob und senkte. Dann sah Annika auf: „Werden wir uns wieder sehen? Meine Mama, mein Papa und ich?“ „Ja, das werdet ihr.“ Und es lag kein Zweifel in der Stimme ihrer Besucherin, nur ruhige Gewissheit. „Dann komme ich mit.“ Annika hatte sich entschlossen. „Kann ich eine Nachricht schreiben für meine Eltern?“ Die alte Frau sah sich suchend um und reichte ihr dann einen Zettel und einen Stift. Als Annika fertig war, stand die Frau auf und zog sie hoch: „Irgendwelche Reisewünsche?“ „Wieso?“ Annika verstand nicht. „Du darfst wählen. Wir können natürlich einfach durch die Tür gehen, aber wir können auch fliegen?“ Etwas fast schelmisches lag jetzt im Klang der uralten Stimme. „Wir können fliegen?“ Annika konnte es nicht glauben. „Wenn Du möchtest?“ „Ich wollte schon immer auf dem Mondstrahl zum Himmel wandern. Das ist so ähnlich wie fliegen. Geht das auch?“ Aufregung erfasste Annika. „Das geht.“ Die alte Frau trat an das Fenster, öffnete es weit und reichte Annika ihre Hand. Der Vollmond schien direkt ins Zimmer. Es war eine kühle Dezembernacht und durch den leichten Nebel schien es, als wäre der Mondstrahl tatsächlich eine Straße, die direkt ins funkelnde Firmament führte. Kichernd stieg Annika aus dem Fenster, was für ein Abenteuer! Etwas zögernd setzte sie erst den einen nackten Fuß auf das silberne Licht dann – als sie tatsächlich Halt fand – den zweiten. Staunend stand sie jetzt da. Mitten in der Luft – in der Nacht. Und hätte jemand kurz danach hoch geschaut, hätte er zwei Gestalten auf dem Mondlicht in den Himmel gehen sehen. Eine uralte und eine sehr junge – beide mit beschwingtem Schritt. Aber es sah niemand hoch. Nur ein Käuzchen bemerkte das ungleiche Paar, umrundete sie einmal, um sie zu grüßen und verschwand dann in der Dunkelheit.


Das stetige hohe Piepen des Alarmtons der Überwachungsgeräte rief die Nachtschwester in das Zimmer. Sekunden später wimmelte es in dem kleinen Raum von medizinischem Personal, die versuchten, sie ins Leben zurück zu holen. Aber da war Annika schon auf dem halben Weg ins Irgendwo. Ihr kleiner Stoffhase, der ihren Brief zwischen den Pfoten hielt, flog achtlos zu Boden. Erst später, als wieder Ruhe eingekehrt und alle Maschinen abgestellt waren, fand Maria ihn. Liebevoll strich sie ein letztes Mal die Laken glatt und legte Schlappi an seinen Platz auf das Kopfkissen. Dann sah sie den kleinen gefalteten Zettel. „An Mama und Papa“ stand darauf. Maria sah sich um, sie war allein. Behutsam faltete sie das Papier auseinander. Als sie die Zeilen gelesen hatte musste sie lächeln, trotz der Tränen, die ihre Wangen hinunter liefen. Maria wischte sie langsam weg, steckte den gefalteten Zettel Schlappi zwischen die Pfoten, strich Annika ein letztes Mal übers Haar und verließ den Raum. Das Fenster ließ sie geöffnet. Sie konnte sich nicht erklären, wieso es offen war. Auch nicht, wie Annika überhaupt noch die Kraft gefunden hatte, zu schreiben. Vielleicht war es ja wirklich so, wie in dem Brief stand. Dass der Tod nicht das Ende war sondern der Beginn eines wunderbaren Abenteuers und das sie sich am Ende alle wieder sehen würden. Mit einem leisen Knarren schloss Maria die Tür und zurück blieb der Duft nach erstem Schnee und einem Hauch von Äpfeln.

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